von Johannes Kubasik
Die erste Gelegenheit zum Anschluss an das Eisenbahnnetz erhielt Westerwiehe 1856. Doch der Plan zum Bau einer Eisenbahnlinie von Emmerich nach Paderborn über Münster – Rheda scheiterte im Dezember 1856 an der mangelnden Finanzierung. Eine weitere Chance ergab sich ab 1865. Diesmal wurde eine Bahn von Münster über Rheda – Paderborn nach Carlshafen (heute: Bad Karlshafen) projektiert. Bis September 1867 führte man Vermessungsarbeiten zwischen Münster und Paderborn durch. Trotzdem verhindern die Auswirkungen des Dänischen Krieges 1866 und des Deutsch-französischen Krieges 1870/71 jede weitere Beschäftigung mit dem Bahnprojekt.
Ein Komitee, bestehend aus interessierten Städten und Landgemeinden, beriet im Hotel „Berghoff“ in Delbrück am 27.2.1893 über den Streckenverlauf einer Eisenbahn von Rheda über Neuenkirchen – Rietberg – Delbrück – Neuhaus nach Paderborn. Die Provinz Westfalen als staatlicher Vertreter lehnte jegliche Beteiligungen der Finanzierung zum Bau und Betrieb dieser Eisenbahnlinie ab. Als private Eisenbahngesellschaft konnte die Westfälische Landeseisenbahn-Gesellschaft (WLE) für die Realisierung der Eisenbahnstrecke gewonnen werden, nachdem die Finanzierung durch den Provinzial-Verband von Westfalen, Anliegerkommunen und –kreise sowie Unternehmer sichergestellt worden war. Zur Einsparung von Baukosten schlug der WLE-Direktor Friedrich Schönfeld vor, die Endpunkte der Bahn mit Wiedenbrück und Sennelager statt mit Rheda und Paderborn festzulegen.

Mit den Erdarbeiten begann die Firma Heinrich Hardensett aus Telgte im Januar 1901, die Gleise wurden laut den monatlichen Bauberichten des Bau-Ingenieurs Zander bis Westerwiehe im März 1902 – ebenfalls von der Firma Hardensett – verlegt. Tatsächlich erreichte der erste Arbeitszug die Station Westerwiehe bereits am 25.2.1902, wie die Tageszeitung „Die Glocke“ in ihrer Ausgabe mit einer euphorischen Stimmung vom 4.3.1902 berichtete:

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An der 32,43 km langen Strecke wurden nur die beiden Bahnhöfe Rietberg-Neuenkirchen und Delbrück errichtet. Alle übrigen Stationen waren Haltepunkte oder Haltestellen, die von sogenannten Bahnagenten bewirtschaftet wurden. An den Streckenendpunkten erhielt die WLE in den Staatsbahnhöfen Wiedenbrück und Sennelager Mitbenutzungsgenehmigungen. Die Sennebahn hatte somit keine direkte Verbindung zum Eisenbahnnetz der WLE, das von Lippstadt bis Warstein, Soest, Brilon und Beckum reichte. Sämtliche Fahrzeuge mussten zeitraubend und kostenpflichtig zwischen Wiedenbrück und Lippstadt auf der Staatsbahn – wie zum Beispiel bei erforderlichen Werkstattaufenthalten – überführt werden.
Die feierliche Eröffnung der Eisenbahn in Westerwiehe fand am Samstag, 30. August 1902 gegen 13:00 Uhr mit Böllerschüssen und nachfolgendem Gesang von etwa 250 Schulkinder statt. Der Schreiber der Schulchronik der Schule I in Westerwiehe zitierte eine Ansprache damit, dass „die hiesige Station noch einen etwas unfertigen Eindruck mache“. Davon unbeeindruckt berichtete der Chronist in der Tageszeitung „Die Glocke“ vom 1.9.1902: „Sichtlich überrascht wurden die Festteilnehmer beim Einlaufen des Zuges in Westerwiehe durch lieblichen Gesang und Fahnenschwenken der festlich gekleideten Schuljugend; ein schönes Arrangement des Lehrers Wagner.“
Für den öffentlichen Verkehr wurde die Sennebahn erst am Montag, 1.9.1902, freigegeben, nachdem am Vortag die Postkutsche zum letzten Mal noch eine große Bühne hatte.
Mit Johann Heinrich Henkenherm schloss die WLE am 21.8./24.8.1902 einen Vertrag zur Bahnagentur ab. Die älteste bekannte Illustration von der Bahnstation Westerwiehe ist eine Zeichnung eines von Henkenherm gebauten 8 x 5 m großen Güterschuppens, dessen Abnahmebereitschaft er am 11.11.1903 an die WLE meldet.

Die Bahnstation wurde 1903 mit einem Anschlussgleis für die Gemeinde Westerwiehe erweitert und stieg damit vom „Haltepunkt“ zur „Haltestelle“ auf. Der Vertrag mit der WLE für die Errichtung des Gleises und der Weichen wurde am 1.12./12.12.1903 abgeschlossen. Die WLE stellte einen Kostenplan in Höhe von 4010 Mark auf. Den Betrag nahm die Gemeinde Westerwiehe als Anleihe bei der Sparkasse Rietberg auf.
Ein weiteres Anschlussgleis entstand im Jahre 1907 für den Kolon Adam Westhoff. Dieses zweigte ostwärts per neuer Weiche vom Gemeindegleis ab und führte durch die Scheune und endete hier zunächst. Nach 1922 wurde das Gleis nach Osten verlängert und mündete mit einer weiteren Weiche wieder in das Hauptgleis ein. Eigentümer des Anschlussgleises war mittlerweile Franz Westhoff.

Im ersten Jahrzehnt der Sennebahn tat sich in Westerwiehe einiges:
Am 7.4.1902 kündigt die Kaiserliche Ober-Postdirektion die baldige Einrichtung einer Postagentur auf der Haltestelle Westerwiehe an, die ab 1.6.1902 ihre Arbeit aufnahm. Im Betriebsjahr 1904/05 wurden die Eisenbahnstationen Rietberg-Neuenkirchen und Westerwiehe telefonisch verbunden.
Im Dezember 1904 berichtet „Die Glocke“ von einem „sehr lebhaften Verkehr auf hiesigen Bahnhof“. Täglich liefen 20 – 30 „Doppelladungen“ (200 – 300 Tonnen) Steine für den Chausseebau von Rietberg nach Westerwiehe ein. Mit einer Feldbahn wurden das Material zur Baustrecke befördert.
Die Fertigstellung der Pflasterung der Ladestraße in Westerwiehe meldete der Rietberger Amtmann Böckers am 10.1.1906 an die WLE-Direktion.
Dagegen nicht realisiert wurde der Antrag des Heinrich Kühlmann, der 1913 seinen Schuppen über eine Wagendrehscheibe an das Gemeindegleis anschließen wollte.
Am 25.5.1914 beantragte Heinrich Rehage bei der WLE einen Schrankenbaum an der nördlichen Seite des Bahngleises am Bahnübergang „Im Thüle“. Die Firma C. Stehmer aus Georgsmarienhütte lieferte den Schrankenbaum für die Schrankenanlage. Sie war während der Durchfahrt der Züge aus Richtung Sennelager – aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse durch die Westhoffsche Scheune – gesichert. Einen Vertrag zur richtigen Bedienung schlossen die WLE und Henkenherm am 5.1./11.1.1915 ab. Im April 1916 erweiterte die WLE die Schranke noch mit einem Läutewerk.

Nach dem Tod des Johann Heinrich Henkenherm am 11.2.1927 übernahm sein Sohn Heinrich Henkenherm (jun.) an der Haltestelle die Geschäfte. Wegen seiner Überlastung musste ab April 1927 eine Hilfskraft vom Bahnhof Rietberg-Neuenkirchen für täglich 3 ½ Stunden aushelfen.
Am 1.3.1930 nahm die WLE einen neuen Bahnsteig auf der östlichen Seite des Bahnüberganges „Im Thüle“ in Betrieb. Gleichzeitig ging die Agententätigkeit von Heinrich Henkenherm jun., der den Vertrag aufkündigte, an Witwe Angela Maria Johannleweling über.
Der 1903 von Henkenherm errichtete Güterschuppen wurde 1930 geordnet abgebaut und rund 50 Meter östlich auf den neuen Bahnsteig versetzt.

Die Schranke wurde laut Bahnmeister Erdmann am 14.10.1930 abgebaut.
Aus WLE-Akte 711: „Haltestelle Westerwiehe“ im Kreisarchiv Soest (KASO), Depositum N 15: Westfälische Landes-Eisenbahn.

Foto aus der Akte „Bestandsaufnahme der Sennebahn“ durch das DB-Betriebsamt Münster (Westf) II. Archiv der WLE in Lippstadt.

Manche Motive werden erst interessant, wenn es sie nicht mehr gibt. Die Ostseite des Güterschuppens des Bahnagenten Henkenherm fotografierte am 7.12.1986 Gerald Doppmeier. Elf Jahre später wurde das Gebäude niedergelegt.

Geschäftige Betriebsamkeit dokumentiert dieses Foto am neuen – noch offenen – Güterschuppen von 1941 im Sommer 1948. In Westerwiehe eingefahren ist ein Personenzug mit Güterbeförderung.

Der Sohn der Witwe Johannleweling, Johann Johannleweling, übernahm per Vereidigung am 12.8.1931 als Agent die Haltestelle Westerwiehe.
Am 8.11.1941 nahm die WLE eine Überdachung als Erweiterung des Güterschuppens in Betrieb.
1942 wurde als Bahnagent in Westerwiehe Conrad Johannleweling im Rahmen eines Nutzungsvertrages der Räumlichkeiten für die WLE bis zum 1.4.1972[!] genannt. Am Karsamstag – 31.3.1945 – stellte die WLE den Zugverkehr nach Einnahme der Stadt Wiedenbrück durch amerikanische Truppen ein. Der Personenverkehr wurde am 15.6.1945, der Güterverkehr erst im September wieder aufgenommen. Durch die starken Einschränkungen der Kohlezuteilungen konnte auch noch 1946 kein täglicher Verkehr gewährleistet werden.
Die Bahnagentur Westerwiehe beendete ihre Tätigkeit mit dem letzten Personenzug am 31.3.1958. An diesem Tag tauschten die WLE und die Deutsche Bundesbahn (DB) die Betriebsrechte auf der Sennebahn und der Strecke Beckum – Neubeckum. Damit endete am gleichen Tag auch der Dampflokbetrieb auf der Sennebahn, da die DB den durchaus noch erträglichen Güterverkehr ausschließlich mit eigenen Diesellokomotiven bediente. Die Sennebahn war damit eine der ersten Strecken in Deutschland, die ohne Dampflokomotiven auskam. Anlagen und Gebäude der Sennebahn blieben bis zum 20.3.1991 im Eigentum der WLE, die dann an die Anlieger-Kommunen der Eisenbahnstrecke verkauft wurden. Der Güterverkehrbetrieb im Abschnitt Delbrück – Ostenland wurde am 21.5.1966 eingestellt. Wie sich bereits ab etwa 1930 zeigte, konzentrierte sich der Verkehr zunehmend in Richtung Wiedenbrück.

Vorsichtig überquerte die Kleindiesellok 333 046 am 11.7.1986 gegen 10:00 Uhr mit ihrem Übergabegüterzug den Bahnübergang „Im Thüle“, um den offenen Schüttgutwagen (rechts) vom ehemaligen Gemeindegleis abzuholen.
Im Herbst 1985 baute die DB die bahneigene Telefonleitung in Westerwiehe bis Rietberg-Neuenkirchen ab. Dafür wurde im gleichen Zeitraum die Strecke zwischen den Bahnübergängen „Kornweg“ und „Im Thüle“ mit neuen geschweißten Schienen auf Betonschwellen modernisiert.
In der Güterabteilung des Bahnhofs Neubeckum führte man über die Anzahl der leeren und beladenen sowie zugeführten und abgeholten Güterwagen auf der Sennebahn Buch. Für die Jahre 1988 und 1989 ergab sich folgende Aufstellung (als Vergleich die Zahlen vom Bahnhof Rietberg-Neuenkirchen und dem Anschluss Bollweg):
Güterwagen 1988 | Rietberg-Neuenkirchen | Anschlussstelle Chr. Bollweg | Westhoff Westerwiehe | Ladegleis Westerwiehe |
Zugeführt leer | 405 | 209 | 18 | 39 |
Zugeführt beladen | 237 | 2 | 0 | 0 |
Abgeholt leer | 424 | 6 | 0 | 1 |
Abgeholt beladen | 194 | 203 | 21 | 35 |
Güterwagen 1989 (ohne Dezember) | Rietberg-Neuenkirchen | Anschlussstelle Chr. Bollweg | Westhoff Westerwiehe | Ladegleis Westerwiehe |
Zugeführt leer | 84 | 165 | 7 | 24 |
Zugeführt beladen | 343 | 6 | 0 | 0 |
Abgeholt leer | 333 | 7 | 0 | 2 |
Abgeholt beladen | 64 | 166 | 8 | 22 |

Unmittelbar vor der letzten Fahrt eines Güterzuges auf der Sennebahn am 25.5.1990 erhielt der Empfänger Franz Westhoff noch eine 21 t schwere Kohlenladung.

Am 3.6.1987 ermittelte ein Gleismesstriebzug 725 004 / 726 004 den Oberbauzustand der Sennebahn und hatte dabei soeben den Bahnübergang „In den Marken“ passiert. Als Ergebnis der Messung gab es 1988 umfangreichen Reparaturmaßnahmen an der Sennebahn.
Bis Ende 1988 führte die DB die regelmäßige Instandsetzungen an der Sennebahn durch. Anfang 1989 bezifferte die Bahndirektion Essen die erforderliche Sanierung des Oberbaus zwischen Rietberg-Neuenkirchen und Delbrück mit ca. zwei Millionen DM, über die nächsten 5 Jahre seien für die ganze Strecke 7,21 Millionen DM erforderlich. „Da die Weiterbedienung gemäß dem Investitionsplan unwirtschaftlich sei“, kündigte die DB den Pachtvertrag mit der WLE am 7.7.1989, die ihrerseits auch nicht bereit war, den Eisenbahnbetrieb ab den 28.5.1990 hinaus fortzusetzen. Der letzte Güterzug der DB holte dann am 25.5.1990 sämtliche Wagen auf den Stationen der Sennebahn ab.
Eine Hamburger Gleisbaufirma begann am 10.6.1992 am Bahnübergang Westerwieher Straße mit den Abbrucharbeiten, die sich an der Haltestelle Westerwiehe bis zum Januar 1993 hinzogen. Der heutige Radweg war in Westerwiehe bis Anfang September 1994 geteert. Erst im Dezember 1996 war nach Abschluss der Bauarbeiten zwischen der Sennebachbrücke und der Bahnhofstraße in Rietberg der komplette Radweg befahrbar.
An der einstigen Haltestelle Westerwiehe sind in 2021 noch sämtliche Gebäude wie die Westhoffsche Scheune, die Güterschuppenerweiterung von 1941, der Bahnsteig von 1930 sowie die beiden Bahnagenturen Henkenherm und Johannleweling erhalten.
Einige Quellen (Auswahl):
Kreisarchiv Soest, Depositum N 15: Akten der WLE, u.a. 771 Haltestelle Westerwiehe
Stadtarchiv Rietberg D 334a: Die Eisenbahn Wiedenbrück – Sennelager 1906 – 1928
Kückmann, Josef und Beyer, Burkhard: Von Warstein bis ins Münsterland.
Die Geschichte der Westfälischen Landes-Eisenbahn (WLE), Paderborn 2008
Internetseite https://zeitpunkt.nrw/ – Digitalisierte Zeitungsausgaben in NRW.

Blick aus dem Gleismesstriebzug bei der Durchfahrt der Haltestelle Westerwiehe am 3.9.1987.

Wegen Streckenbehinderung durch herabgefallene Äste und umgestürzten Bäumen nach heftigen Eis- und Schneeregen am Rosenmontag 1987 stellte die DB den Verkehr auf der Sennebahn für drei Tage ein. Am 4.3.1987 erreichten die Rottenarbeiter mit ihrem Schwerkleinwagen (Skl) bei den Aufräumarbeiten die StationWesterwiehe .

Nur einen gedeckten Güterwagen hatte die Kleindiesellok 333 046 am 12.8.1986 zu befördern. Rechts erscheint hinter dem Hof Austermann auf der Westerwieher Straße der VW Golf der Fahrschule Adrian.

Am 9.9.1988 rangierte wiederum die Kleindiesellok Köf III – 333 046 einen Fc-Wagen auf dem ehemaligen Gleis der Gemeinde Westerwiehe zu einem Förderband.

In den 80er Jahren nutzte die Museumseisenbahn Paderborn viermal die Sennebahn für ihre Museumszüge. Oben ist die Diesellok V 20 042 am 21.9.1986 als Zugschluss eines Sonderzuges in Westerwiehe zu sehen. Warum hier einmal eine Schrankenanlage stand, lässt sich gut nachvollziehen.

Am 10.6.1992 begann eine Hamburger Gleisbaufirma mit dem Abbau der Gleise ab dem Bahnübergang Westerwieher Straße in Richtung Westerwiehe und nicht etwa an den Streckenenden in Wiedenbrück oder Delbrück. Die Gleisjoche wurden durchtrennt und mit Hilfe eines Rollwagens nach Westerwiehe transportiert.
Das Ergebnis der illustren Fahrt ist unten an der Haltestelle Westerwiehe zu sehen.
